Weiter geht´s-heute in Überlänge..
Tag 6
Der Morgen beginnt wie die der letzten Tage. Wir sitzen am Frühstückstisch und essen isländische Klassiker wie Rúgbrauð, Tomaten und Gurke aus dem geothermalen Gewächshaus , dazu die wohl teuerste Salami unseres Lebens. Noch ein Skyr mit frischen Obst zum Nachtisch und dann kommt von Madame die schon fast obligatorische Frage. Auf ein „wo fahren wir denn heute hin?“, folgt nach meiner Antwort wieder mal ein: „und sind wir da alleine?“. Dies kann ich heute noch überzeugter bejahen als die Tage zuvor. Das Ziel sind zwei Wasserfälle, wenig bekannt, dafür sehr besonders, denn sie besitzen unterschiedliche Farben und stürzen in ein gemeinsames Becken. Die Rede ist vom Núpsár- und vom Hvitárfoss, etwa 12 Kilometer abseits der Ringstraße gelegen. Allerdings ist fraglich ob wir es angesichts des wohl beschwerlichen Wegs dorthin schaffen. Versuch macht klug und wir verlassen wieder pünktlich um 9 unsere Basis.
Am Abzweig zur Ringstraße biegen wir links ab und nehmen Kurs auf den Ort mit dem wohl zungenbrecherischsten Ortsnamen Islands- Kirkju…ur! Nach einem kurzen Tankstopp geht es bis zur westlichsten Brücke im Skeidarsandur weiter. Hier ist die Núpsár überspannt, jener Fluss, den wir später erst furten müssen, bevor dessen Lauf uns den Weg zu den Wasserfällen weist. Mit gemischten Gefühlen verlassen wir die Ringstraße, einerseits froh Schotter unter die Räder zu bekommen, andererseits nervös, was nun auf uns wartet. Es ist zunächst ein üppiges Geflecht an Wegen, was sich später zu einem Einzigen bündelt, der sich dann letztendlich in einem Meer aus Felsbrocken verliert.
Das lässt Madame jetzt schon ans Scheitern denken, ich allerdings lege jetzt alle Hebel in unserem Jeep in Bewegung. Mein „wir-schaffen-das“-Geist ist geweckt und ich suche die Flucht nach vorne. Folglich ändere ich den Kurs Richtung Fluss, weil es ohnehin besser zum Verlauf der gestrichelten Linie auf der Karte passt. Nach wenigen Minuten im Kriechgang stehen wir am Ufer und sind einen kräftiger Steinwurf weit von der anderen Seite getrennt. Fünfzig Meter kühles Nass, das zwischen uns und der Hoffnung liegt, dass es drüben besser wird, fünfzig Meter die über das Gelingen unseres Vorhabens entscheiden. Es wäre allerdings auch eine Fahrt durch einen Fluss, den wir nicht kennen, nicht recherchieren konnten und auch nicht einzuschätzen wissen. Die Zeit ist also reif sich einiger Klamotten zu entledigen und in die Neopren-Surf-Schuhe zu schlüpfen, die ich mir nach den frostigen Erfahrungen des Vorjahres besorgt habe. Gespannt ob´s was bringt, setze ich die Füße in die klare Brühe. Doch bevor Zeit ist über solche Luxusprobleme bei diesen sommerlichen Temperaturen nachzudenken, stecke ich in ganz anderer Not.
Ich ringe nach Halt, wackel gestützt auf den Wanderstock hin und her und kann gerade noch abwenden gleich baden zu gehen. Nach diesem Warnschuss taste ich mich ganz vorsichtig doch ohne weitere Wackler in beide Richtungen durch den Fluss. Madame ist die Freude über meine Unversehrtheit ins Gesicht geschrieben und auch ich bin erleichtert. Da weder der Pegelstand an meinem Bein je bedrohlich war, noch das Wanderstock-Sonar größere Brocken unter der Wasserlinie detektiert hat, steht einer Querung mit dem ganzen Gefolge nichts im Wege. Schnell umgezogen, das Mädel eingepackt, bevor wir uns ganz relaxt von der Kraft der vier Räder durch das glitzernde Wasser ziehen lassen.
Nach einer weiteren kurzen Materialschlacht am anderen Ufer geht unser Plan letztendlich auf. Wir finden einen Weg, der uns zügig und hindernisfrei durch den Sander bringt. Als das Tal enger wird, die Núpsá sich von einem Rand zum anderen schlängelt, wird das Auto geparkt.
Ab hier geht es nur noch zu Fuß weiter-erst gebückt wie Quasimodo durch einen engen Pfad im Zwergenbirkenwald, dann weglos durchs Flussbett, bevor wir letztendlich vor der Felswand stehen, die ich in den letzten Monaten immer mal als Motivation nahm den einen oder anderen Liegestütz zu machen. Während ein Kletterer über die knapp 10 Meter hohe, nahezu senkrechte Wand nur müde lächeln würde, ist unsere einzige Chance eine dicke Eisenkette.
Damit kennen wir uns aus, sind wir doch 2014 wie ein paar nasse Säcke an einer ähnlichen Kletterhilfe an der Paradisarhellir kläglich gescheitert. Dieses Ereignis hängt uns nach, wodurch ich heute schneller mit einer Hand am Eisen und der anderen im Gestein bin als mir selber Zweifel über ein ähnliches Scheitern aufkommen könnten. Ich habe Respekt, doch keine Angst und merke glücklicherweise beim ersten Tritt mit der globigen Schuhspitze in den Fels, dass ich es nach oben schaffe werde. Dieser schnelle Erfolg soll auch meine ängstlichere Hälfte motivieren, die kurz nach dem ich oben bin mit der Klettereinlage beginnt. Das untere steile Stück ist schnell geschafft, doch oben, wo es die letzten Meter ohne Kette und in allen Ebenen gekrümmt am Fels lang geht, macht ihr stark zu schaffen.
Ich kann kaum hinsehen und wünschte mir einen zwei Meter langen Go-Go-Gadget-Arm um ihr zu helfen. Sie schafft es auch ohne, zwar stark verunsichert - wie ich allein vom Zugucken - aber sie ist erstmal oben. Diese Verunsicherung legt sich auf den letzten Metern zu den Wasserfällen nicht, sodass unsere Gefühle beim Anblick der zwei stürzenden Wassermassen genauso gemischt sind wie das Wasser nach der Vereinigung der beiden Flüsse.
Mit noch mehr Höhenangst als sonst mache ich Fotos, doch irgendwie wird das Knipsen zur Nebensache. Wie so oft im Gefühl vereint, sind wir beide schon beim unumgänglichen Rückweg. Da es keinen anderen Weg gibt, braucht es einen Plan. Diesen gibt ausnahmsweise Madame vor. Ich soll vorgehen, knapp unter ihr klettern und ihr Feedback über die Beschaffenheit der Wand geben. Ihr Wunsch ist mir Befehl, auch wenn mir bewusst ist, dass bei einem Fehltritt von ihr, das für beide kein gutes Ende nimmt. Meine Einschätzungen und meine Nähe geben ihr Sicherheit, sodass wir es heil herunter schaffen. Wir sind uns einig, dass das eigentlich über unseren Möglichkeiten war, dass wir froh sind noch unter den Lebenden zu sein. Folglich genießen wir den restlichen Rückweg mit neuer Wertschöpfung, sei es gebückt an harzenden Birken vorbei oder gut durchgeschüttelt im Jeep. Erst als wir schon zurück auf der Ringstraße- wenige Kilometer hinter dem Gehöft Núpsstaður- sind, finden wir Ablenkung. Hier wandern wir einige hundert Meter an der Djúpá entlang, wo wir einen Wasserfall finden, der uns doch im Kleinen an den Dettifoss erinnert.
Das wirkt wie Beruhigungsbalsam für die Seele, verbinden wir doch mit dem großen „stürzenden Wasserfall“ im Norden Islands schöne Erinnerungen. So besänftig können wir den Tag beenden und werden uns wohl für immer an diese Wand, die schlotternden Knien und die zitterigen Arme erinnern.